Horror otii

Oratorium in fünf Bildern für Sprecher, Bariton, Chor, Bläser, Percussion, Vibraphon, Orgel, Streicher, Effekte und elektronische Zuspielungen

Libretto und Skulpturen: Harald Bäumler
Komposition: Christof Weiß
Entstehung: 2006–2009
Uraufführung: 21.3.2010, Mariahilfbergkirche Amberg

 


 

Horror otii – Zeitlichkeit als Spannungsfeld zwischen objektiver Beschreibung und subjektiver Wahrnehmung

In der mathematischen Sprache, mit der die klassische Physik Objekte beschreibt, trat die Zeit lediglich als Parameter auf. Zu einem fixierten Zeitpunkt waren die physikalischen Größen, insbesondere der Ort eines solchen Objektes, durch feste Werte gegeben; eine „Interaktion“ mit dem Raum war nicht denkbar. Erst um die Wende zum vergangenen Jahrhundert, mit der nicht nur in den Naturwissenschaften sondern nicht weniger signifikant in den Künsten bahnbrechende Umwälzungen stattgefunden hatten, erkannte Albert Einstein in seiner revolutionären Arbeit „Zur Elektrodynamik bewegter Körper“, welche Folgen sich aus dem empirischen Postulat der Lichtgeschwindigkeit als universale obere Grenzgeschwindigkeit ergaben. Die daraus entstandene Relativitätstheorie beschreibt Zeit als vierte Komponente des Raumes und hat Begriffe wie Gleichzeitigkeit, Kausalität sowie die Universalität von Längen und Zeitdauern auf ein völlig neues mathematisches wie philosophisches Fundament gestellt und damit einen wichtigen Grundstein für eine technologische Entwicklung geschaffen, ohne die unser heutiger Lebensstandard undenkbar wäre. Die Stringenz und Widerspruchsfreiheit dieser Theorie (im Falle der speziellen Relativitätstheorie gleichsam unbestritten) hat sich nicht zuletzt durch Anwendungen solcher Art in herausragender Weise bestätigt, sodass das Phänomen Zeit physikalisch vollkommen verstanden zu sein scheint.

Der Zündfunke für die Entstehung des Oratoriums „Horror otii“ ist jedoch ein völlig anderer: Im Gegensatz zur mathematisch klaren Erfassung durch die Physik erscheint die Zeit dem Menschen auf der subjektiv-emotionalen Ebene oft als verhängnis- bis verheißungsvolles Schicksal, als übermächtiger, undurchdringbarer Kosmos. Jede für uns wahrnehmbare Form von Realität kann ja letztendlich nur in der Gegenwart, im unendlich kurzen Augenblick geschehen, während das Vorher und Nachher nur in der Imagination existiert. Dabei ist paradoxerweise gerade das Phänomen „Jetzt“, das sich erst aus seiner Zwischenheit zwischen Vergangenem und Werdendem ergibt, zwar klar definierbar, bleibt jedoch für den menschlichen Verstand in letzter Konsequenz immer ein Stück weit Rätsel, da zwangsläufig jedes Sinnieren, jeder einzelne Gedanke innerhalb von Zeitlichkeit erfolgt, und überfordert uns damit schon aus seiner Natur heraus.

Letztendlich bleibt uns – losgelöst von religiösen wie philosophischen Standpunkten – keine andere Möglichkeit als den Ablauf der Zeit gelassen zu akzeptieren. Dass uns dies oft nicht gelingt, liegt in der Natur des Menschen, der sich allen Bestrebungen zum Trotz nicht allein auf eine rationale Dimension beschränken lässt. Vielmehr durchdringt dieser Diskurs unser Dasein auf sämtlichen Größenordnungen; vom verpassten Bus im täglichen Alltag über den in jahrelangem Ringen erstrebten Bildungsabschluss bis hin zur generationenübergreifenden Lebensplanung macht uns der in unerbittlicher Monotonität schlagende Sekundenzeiger die beiden Extreme unserer subjektiven Wahrnehmung des zeitlichen Vergehens bewusst und zeigt uns die Lächerlichkeit des doch so schwer vermeidbaren Ärgerns über Situationen auf, in denen wir uns nicht „zur richtigen Zeit am richtigen Ort“ fühlen.

Um Fragestellungen dieser Art kreisen die Gedanken viel beschäftigter junger Menschen; diesen ständig erlebten und doch so sinnlosen inneren Kampf künstlerisch zu thematisieren war mir daher ein sehr persönliches und wichtiges Anliegen, aus dem schließlich Ende September 2006 erste Gespräche mit Harald Bäumler hervorgingen. Welchen Weg dieses Projekt aber gehen sollte, zeichnete sich erst nach und nach ab: Während zu Beginn lediglich Sprecher und Klavier als Gestaltungsmittel zur Disposition standen, weitete sich das Vorhaben während der kreativen Arbeit kontinuierlich aus. Das Ausmaß der Thematik verlangten zunächst nach der Möglichkeit eines Plenums als Summe vieler verschiedener Individuen, die Einbeziehung alttestamentarischer Texte aus dem Buch Kohelet und die damit verbundende Übersetzungsproblematik nach einem im Originalklang der Sprache rezitierenden hebräischen Sprecher, die gegenseitige Durchdringung der Dimensionen Raum und Zeit schließlich nach einer ihr gerecht werdenden musikalischen Besetzung sowie einer räumlich differenzierten Aufstellung derselben, sodass das abendfüllende zeitgenössische Werk nun mehr als siebzig Mitwirkende in der Partitur vermerkt.

Zentral im Altarraum ist der Chor positioniert, der in singender wie sprechender Weise agiert; zu seinen Seiten steht eine Streichergruppe, dahinter sind nicht sichtbar eine Blechbläsergruppe aus je zwei Trompeten und Posaunen sowie ein Pauker aufgestellt. Vor dem Chor steht der Hauptsprecher als wichtigster Protagonist, der mit einem von der Empore herabsingenden Solobariton den überwiegenden Teil des philosophisch reflektierenden Textes realisiert. Differenziert durch die Kontrastbildung zwischen frei rezitierten und metrisch wie melodisch gebundenen Passagen stellen die beiden Akteure zwei Seiten einer dramaturgischen Figur dar. Als davon unabhängiger, eigenständiger Charakter tritt der hebräische Sprecher als von der Kanzel herab mahnender „Prediger“ Kohelet auf. Auf der Galerie über beiden Seiten des Kirchenschiffs stehen je zwei Querflöten (auch Piccolo bzw. Altflöte), Klarinetten (auch Es- bzw. Bassklarinette), Saxophone (Alt-/Sopran- und Tenor-/Baritonsaxophon) sowie eine Oboe und ein Fagott, außerdem ein Vibraphon. Die weitgehend symmetrisch zur Mittelachse des Kirchenschiffes konzipierte Aufstellung trägt als prägende Strukturidee die Ausgestaltung jeder Instrumentengruppe in Paaren zu je einem hohen und einem tiefen Vertreter der Familie. Auf der Empore selbst agieren neben der Orgel, deren überaus relevanter Part für zwei Spieler konzipiert ist, vier Percussionisten, die – über weite Strecken improvisatorisch – den pulsierenden Kern der rhythmischen Bewegung bilden. Die vorherrschende Klangfarbe sind rituelle Trommelklänge, kontrastierend zum metallischen Kolorit abgedämpfter Beckeninstrumente. Über dieses konventionelle Instrumentarium hinaus bedient sich die Musik diverser bisweilen vordergründig fast plakativ anmutender Alltagsgeräusche wie Handys oder Metronome, im letzten Satz treten außerdem nach und nach immer deutlicher zu hörende elektronische Bandeinspielungen hinzu, den Chor nach und nach ersetzend.

Die musikalische Sprache des Werkes lässt sich schwer charakterisieren, zeigt sie doch aufgrund des dreijährigen Entstehungsprozesses zwangsläufig Entwicklungsstationen im künstlerischen Denken eines jungen Komponisten auf. Geprägt ist sie in von mehreren äußeren Prämissen: Deren oberste ist der vorgegebene auszugestaltende Text, der zu großen Teilen in frei zu rezitierender Sprache vorgetragen wird, musikalisch oft untermalt von ebenfalls freien, improvisatorischen Strukturen. Weiterhin trägt das Stück der weit gestreuten Aufstellung in der Mariahilfbergkirche Amberg Rechnung, weshalb besonders die zeitliche Organisation der Musik auf irrationale Rhythmik und empfindliches Zusammenspiel weit entfernter Akteure weitgehend verzichtet. Durch die Zeitverschiebung von mehr als einer Zehntelsekunde zwischen Empore und Altarraum ergeben sich verblüffende Effekte: an jedem Ort der Kirche erlebt der Zuhörer das Stück anders; genau genommen kann die Gleichzeitigkeit mehrerer räumlich getrennter Klangerzeuger nur an einer einzigen Stelle im Kirchenraum perfekt sein. Die Laufzeitunterschiede erfordern schließlich sogar eine Echtzeit-Video-Übertragung des Dirigenten sowie weitere technische Hilfen, um ein metrisches Zusammenspiel über solche Distanzen überhaupt erst zu ermöglichen. Nicht zuletzt war und ist es mir besonderes Anliegen, dass auch avantgardistische Musik den Möglichkeiten avancierter Laienmusiker und besonders –sänger gerecht wird und nicht generell ausschließlich von Spezialisten ausführbar ist, wie es leider in der Neuen Musik allzu häufig der Fall ist.

Motiviert durch inhaltliche Ideen spielt die Tonsprache ausgiebig mit dem Element der „Zeit“: Neben dem Einsatz von Metronomen und anderen ungewöhnlichen Instrumenten wechseln sich rhythmisch feste mit senza-misura-Passagen von variabler Länge ab. Die Klanglichkeit streift sowohl schwebend-flirrende Klänge und die Überlagerung zerissener melodischer und rhythmischer Motivfetzen als auch traditionell anmutende Choralzitate sowie sehr belebte Sprechpassagen des Chores, ist damit also im ständigen Bewusstsein der umfangreichen Tradition abendländischer Kunstmusik konzipiert.

Nicht zuletzt durch die Raumaufstellung bewegt sich die Darbietungsform des Werkes, weitgehend an einer Oratorienaufführung im klassischen Sinne orientiert (wenn auch bestimmte Merkmale desselben wie beispielsweise ein episch-erzählerischer Handlungsstrang fehlen), an der Grenze zwischen Musik und szenischer Gestaltung. Dadurch wird der Hörer in die Mitte des Geschehens geholt, um das Hauptanliegen der Komposition zu intensivieren, den Zuhörer zu tieferer Reflexion über die Zeit, den heutigen Umgang mit derselben sowie die individuelle Ausgestaltung der Lebenszeit zu animieren.

So beginnt bereits der erste Satz „Quid est enim tempus?“, der sich vorsichtig dem Wesen der Zeit zu nähern versucht, mit dem Kammerton a von der Oboe gleichsam als Einstimmen der Instrumente. Dieser Ton wird aber bereits nach dem sukzessiven Einsetzen aller Instrumente mikrotonal variiert und geht über in eine schwebende Klangfläche zwischen as und a, die als thematischer „Zentraltonbereich“ die Nicht-Greifbarkeit des Augenblickes symbolisiert. Daran schließt sich eine dreimalige Einleitungssequenz an, ein Wechselspiel zwischen stehenden Orgelakkorden, flirrend rhythmisierten Streichertremoli und dem erstmaligen Ertönen der programmatischen Metronomschläge, gefolgt von der Eröffnungssentenz des Hauptsprechers und dem ersten, im Flüstern beginnenden und lauter werdenden, lediglich gesprochenen Einsatz des Chores. In einem von homophon gesetzten, akzentuierten Akkorden durchsetzten rezitativartigen Beitrag des Solobaritons steigert sich die Dramatik nun bis hin zum zentralen Punkt im ersten Satz: Hier setzt der Chor mit einem colla parte instrumentierten Choral ein, auf den hin sich der Satz energetisch langsam wieder abbaut. Mit kontemplativen Gedanken von Sprecher und Bariton, hinterlegt mit verschiedenen Strukturen, die thematisches harmonisches Material exponieren, schließt der Eröffnungssatz ersterbend.

Größeren Raum nimmt nach dem einleitenden Beginn nun das zweite Bild „Praetermittimus tempus tempore quaerendo?“ ein, das sich inhaltlich mit der eigentlich motivierenden, unheimlich aktuellen Frage beschäftigt, nämlich dem Entrinnen der Zeit eben durch die extreme Rastlosigkeit und Hektik und die daraus resultierende Oberflächlichkeit des Daseins. Zentrales Thema ist daher Spaltung und Zerissenheit, gleich am Beginn durch komplementär rhythmisierte staccato-Akkorde in Blech und Streichern ausgestaltet. Darüber werfen sich Sprecher und Bariton über das Kirchenschiff hinweg abwechselnd gesungene und gesprochene Fragen zu. Daraus baut sich nun in einer groß angelegten Steigerung ein Tutti auf, auf das der erste Auftritt eines weiteren Protagonisten, des hebräisch rezitierenden Sprechers folgt. Dieser rezitiert als mahnender Prophet von der Kanzel herab Stellen aus dem alttestamentarischen Buch Kohelet in hebräischem Originaltext, und wird teilweise aus dem Chor heraus übersetzt. Dass Kohelet jedoch vergeblich gegen ein Volk predigt, von dem er nicht verstanden wird, zeigt der erste Auftritt, bei dem der ganze Chor in einer „babylonischen Sprachverwirrungsszene“ in mehr als zehn verschiedenen Übersetzungen antwortet, die immer mehr durcheinander gesprochen werden und sich in einem großen Crescendo zusammen mit Pauken und Trommeln, der Urform jeder Art von Kommunikation, steigern und schließlich abreißen, worauf von der Empore herab eine Übersetzung in Oberpfälzer Mundart ertönt. Nach dieser Einleitung des zweiten Satzes schließt sich ein viermalig wiederholter Abschnitt an, der jeweils aus drei Teilen besteht, und in einem ständig vorwärts drängenden Tempo eine groß angelegte Bewegungsenergie vermittelt: Zunächst beginnen jeweils die Trommeln von der Empore, nach und nach setzen alle Instrumente mit eigenen Motiven ein, die sich schließlich zu zwei Linien zusammenfinden und in einen freitonalen Choral münden. Die instrumentalen Linien bauen sich nun wieder ab, übrig bleiben die Trommeln. Über deren Rhythmusteppich erheben sich nun im zweisprachigen Wechselspiel jeweils mehrere Verse aus dem Buch Kohelet in dialogischer Übersetzung aus dem Chor. Nach einem Klangfarbenwechseln von Fellinstrumenten auf metallische abgedämpfte Becken gibt der Hauptsprecher einen hektisch-verzweifelten Text wieder. Hierauf beginnen die Trommeln von neuem und ein weiterer Durchlauf mit einem neuen Choral und anderen Kohelet-Versen schließt sich an. Bei der vierten Ausführung werden die Becken, die zuvor stets abgedämpft waren und damit sehr trocken klangen, nun immer lauter, nach und nach offen gespielt und münden in einen lauten und voluminösen, den Zuhörer vom unablässig fortschreitenden Metrum erlösenden Schlag des Tamtams, in dessen langem Nachhall ein nervöses Flüstern des Chores sowie ein leise tickendes Metronom zu vernehmen sind. Als reprisenhafter Abschluss ertönen nun in freiem Rhythmus und ohne hinterlegte Trommelrhythmen die vier Choräle, gleichsam als mahnend-erinnerndes Fazit des zentralen zweiten Satzes, auf den nun zwei kürzere folgen.

Der Text des dritten Satzes „Acceleratio?“ besteht neben einer kurzen Einleitungssequenz des Sprechers und einigen Versen aus dem Buch Kohelet lediglich aus einzelnen Wortfetzen und kritisiert damit besonders die Oberflächlichkeit und Inhaltslosigkeit einer hektischen Lebensgestaltung. Eröffnet von der Sprechersequenz im Wechsel mit einer Posaunenkadenz folgt zu Beginn dieses Satzes eine Erinnerung an den zweiten: Nach einem Tamtamschlag flüstern die Chorsänger durcheinander verschiedene Übersetzungen des ersten Kohelet-Verses dieses Satzes, wobei im Hintergrund ein Metronom schlägt. Begleitet von hohen Tremoli der Holzblasinstrumente sowie Wirbeln auf Holzblöcken ertönen nun acht biblische Verse, auf die sich der a-as-Klang aus dem ersten Satz anschließt. Mitten in diesem schwebenden Klang beginnt plötzlich im Publikum ein Handy zu klingeln. Nach der anfänglichen Irritation des Zuhörers beginnen nun weitere Mobiltelefone auf Kanzel und Empore sowie im Chor zu läuten, die schließlich simultan abreißen. Dieser schwebende Klang wird nun immer leiser, verschwindet schließlich und mit ihm die letzte Tonhöhe, die in diesem Satz erklingt. Was sich nun anschließt, ist eine über den ganzen Kirchenraum verteilte Rhythmus- und Sprech-„Fuge“, die unter Verwendung diverser perkussive Effekte als „Tonhöhenlosigkeit“ auf die Substanzlosigkeit hektischer Lebensführung anspielen. Dieser Zustand der Beschleunigung baut sich über mehrere Minuten auf, geht dabei mehr und mehr in improvisatorische Elemente über und reißt schließlich simultan ab, wobei ein Handy im Publikum wie als Epilog eine Zeit lang weiterklingelt.

Das vierte Bild „Mendax tranquillitas?“ stellt zumindest augenscheinlich den meditativen Ruhepol in diesem Werk dar. Bei genauerer Betrachtung ist aber ein hinterfragender Unterton nicht verkennbar, dessen Intention nicht zuletzt eine kritische Auseinandersetzung esoterischer Angebote ist, die „Ruhe für Geld“ versprechen. Anfangs gesellen sich zu dem sehr leisen einstimmigen flautando-Einsatz der Streicher nach und nach Orgel und Holzbläser und übergeben diese unisono-Tonfolge als quasi-gregorianischen Choral an den Bariton und die Männerstimmen, die ihn auf die lateinische Übersetzung des ersten Kohelet-Textes aus dem zweiten Satz fortführen. Auf den letzten Ton erklingt ein Quint-Oktav-Klang von Orgel, Streichern und Pauken, in den sukzessive diffuse Holzbläser-Töne einfließen. Diese sammeln sich nach und nach und aus dem Streicher-Orgel-Holzbläser-Klang geht ein hoffnungsvoll aufblühendes harmonisches Geflecht hervor, welches gleichsam als kurzer Lichtblick die aus sanftmütiger Ruhe entstehende schöpferische Kraft andeutet, schließlich wieder in sich zusammensinkend, bis lediglich ein gedämpfter Basston liegen bleibt. Über diesen erhebt sich ein längerer Beitrag des Kohelet, der in die reprisenartig abermals entstehende harmonische Entwicklung mündet. Daran schließt sich ein meditativer Text des Sprechers an, untermalt durch die Wiederaufnahme des Chorals aus dem ersten Satz, zunächst a capella gesummt vom Chor, schließlich in räumlich getrennter, dreifach transponierter Überlagerung von Holzbläsern, Streichern und Orgel, wozu der Bariton den Anfangsteil des Textes musikalisch ausformuliert wiederholt. Mit einem daraus entstehenden räumlich verteilten E-Dur-Dreiklang geht die Spähre dieser „trügerischen Stille“ zu Ende.

Auf sie folgt der alles übersteigende Schlusssatz „Calamitas finalis?“, der das Geschehen in einem Temporausch beendet, wobei er sich zentraler Elemente und Gesten aus den vorangegangenen Sätzen bedient. Zu Beginn wird aus einer in den vorhergehenden Sätzen weitgehend ausgesparten Registerlage, nämlich aus extremer Tiefe heraus ein gewaltiger unisono-Klang aufgebaut, der nach kürzeren Auftritten von Chor und Sprechern zu einem obertonreichen, die Orgel imitierenden Klang anschwillt und in ein langes, wahnwitziges Solo derselben mündet. Diese transformiert sich nach und nach in eine rezitativartige Struktur, bis analog zum ersten Satz Bariton sowie die anderen Instrumentengruppen einsetzen, wobei die akzentuierten Akkorde breiter werden und schließlich ins Kontinuum übergehen. Dieses mündet in eine an den zweiten Satz erinnernde groß angelegte Steigerung, die mit einer extrem gedehnten Verschränkung eines BACH- mit einem Dies-Irae-Zitat unterlegt ist. Letzteres Sujet, wurzelnd in einer gregorianischen Sequenz, durchzieht die westeuropäische Musiktradition seit ihren Anfängen und hat Komponisten immer wieder zu epochalen Werken inspiriert. Zugleich ist es innerster Ausdruck apokalyptischer Dimension, auf welche sich die „finale Katastrophe“ ohne Zweifel erstreckt. Über diesen monumentalen Orgelpunkten erhebt sich eine erregte Konversation des Chores, untermalt von der bereits im ersten Satz exponierten harmonischen Wendung, in der sich drei Vierklänge in einen vierten auflösen. Diese Akkordfolge wird nun mehr und mehr übereinandergetürmt und findet schließlich in einer Kulmination in vier harmonischen wie zeitlichen Schichten ihren Höhepunkt. An dieser Stelle nun kippt der Satz ins Groteske; die herkömmlichen musikalischen Steigerunsmittel scheinen erschöpft. Von allen Seiten beginnen Metronome in einem periodischen Signal zu schlagen, nach und nach auseinanderlaufend, worüber ein Sprecher mit Megaphon durch das Publikum eilend im Ton einer Vorlesung rezitiert. Der Chor tut ihm diese Geste nach und verlässt deklamierend den Kirchenraum, während der Sprecher zur Überlagerung verschiedener parodierter Tanzrhythmen an die Zuhörer appelliert. Hier begibt sich die Musik nochmals in eine andere Perspektive und betrachtet das irre Geschehen gleichsam aus sicherer Distanz, indem über leiser Rückblende der Choräle aus dem zweiten Satz Kohelet seinen letzten vergeblichen Auftritt hat, bevor eine bizarre Schlussgeste den erschütterten Zuhörer mit der unbeantworteten Frage nach dem „Finis“ zurücklässt.


Christof Weiß



© Christof Johannes Weiß 2020