Psalm 22 „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

für Violine und acht Männerstimmen

Text: Buch der Psalmen in der Übersetzung von Martin Buber
Entstehung: 2012–2013
Uraufführung: 8.3.2013 Amberg | 9.3.2013 Regensburg | 10.3.2013 Cham

 


 

“Eli, Eli, lema sabachtani? - Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Bereits diese ersten Worte, die uns in erster Linie aus dem Matthäusevangelium als die letzten Jesu am Kreuz bekannt sind, zeigen die enge Beziehung des Psalm 22 zur Passionsgeschichte. Als existenzielles Klagelied schildert der Psalm in dramatischen Bildern die tiefen Abgründe, denen die Menschen aller Zeiten immer wieder gegenüber stehen. Diese Erfahrung göttlicher Abwesenheit gerade in den Katastrophen menschlicher Existenz stellt den Glauben auf die härteste Probe. Aber noch mehr als das offensichtliche, aber äußere Leiden eines uns fernen Kollektivs erschüttert die eigene Erfahrung der Verlassenheit an den Tiefpunkten des Lebens unser Gottvertrauen in den Grundfesten.

In dieser Extremsituation finden wir uns im Psalm 22 wieder. Das tiefe Gottvertrauen ist dem Beter nicht fremd („Mein Gott“), er ist kein notorisch kritischer Zweifler, sondern kennt eine tiefe Beziehung zu seinem Schöpfer. Umso härter trifft ihn die Erfahrung der Gottverlassenheit, die wir in unserem Menschsein solidarisch nachfühlen. Aber nicht nur wir allein: Durch das Beten jener Worte am Kreuz solidarisiert sich Jesus Christus mit allen Dimensionen menschlichen Leidens, mit jedem einzelnen Schicksal.

Aber wie das Evangelium bleibt der Psalm hier nicht stehen. In einem völlig unerwarteten Bruch wird der Beter in seiner Verzweiflung erhört. An der entscheidenden Stelle, die Martin Buber in seiner wunderbar poetischen Nachdichtung treffend übersetzt („ ... gibst du mir Antwort!“) schwingt der Text in ein überschwängliches Loblied um. Gegen die Extremsituation des Beginns wird die unfassbare Größe göttlicher Existenz und Güte gepriesen. In seinem verheißungsvollen, auf die Zukunft Bezug nehmenden Schluss zeigt er in Parallele zum Evangelium die Erfüllung auf, mit der jedes Leiden in der biblischen Botschaft untrennbar verbunden ist.

Mit der Besetzung Männeroktett und Solovioline lassen sich die weit gespannten Gegensätze des Psalm 22 wunderbar musikalisch darstellen: Die Wechselwirkungen zwischen getriebenen Hoffnungsschüben und verzweifelt einsamer Resignation prägen den Anfangsteil (in Anspielung auf ein ebenso existenzielles „Abschiedswerk“ spätromantischer Sinfonik), in sich kreisende, ausweglose harmonische sowie getriebene rhythmische Bewegung skizzieren die dramatischen Bilder des Mittelteils, welcher schließlich in ein freuderfülltes Wechselbad von Euphorie und dem behüteten Wogen des (schubertschen) Psalms 23 umschlägt, nicht ohne letztlich in neutestamentarischem Geist unser aller Hoffnung auf Erfüllung anzudeuten.


Christof Weiß



© Christof Johannes Weiß 2020